Wie ich auf das Thema „Frühkindliche Reflexe“ gekommen bin….

Wie ich auf das Thema „Frühkindliche Reflexe“ gekommen bin….

Mag. Juliane Beyerl

Pädagogische Praxis für Entwicklungsförderung, Schwertberg, OÖ

Gast-Blogbeitrag für das EÖDL, 21. 6. 2023

www.inpp-entwicklungsfoerderung.at
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Als ausgebildete Volks- und Sonderschullehrerin fühlte ich mich in meinen ersten Berufsjahren oft unzureichend geschult in der Förderung und Begleitung „besonderer“ Kinder. Das müssen keineswegs ausschließlich Kinder mit kognitiven, intellektuellen, gesundheitlichen oder motorischen Einschränkungen sein. Ich hatte mehr und mehr das Gefühl, viele von ihnen, die weder eine Diagnose oder ein augenscheinliches Merkmal einer Einschränkung hatten, schleppten einen „unsichtbaren“ Rucksack durchs Leben, der es ihnen schwer machte, ihr Potential auszuschöpfen, geschweige denn auch nur annähernd so viel zu erreichen wie andere Kinder. Was in diesem „Rucksack“ sein sollte, was ihn so hinderlich machte und dem betroffenen Kind den Handlungsspielraum so eng werden ließ, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt nicht benennen. Also reihte ich Ausbildung an Ausbildung, studierte an der Universität Wien berufsbegleitend Pädagogik und Sonder- und Heilpädagogik, machte eine Mediationsausbildung, uvm., aber befriedigende Antworten auf meine Fragen bekam ich hier auch nur zum Teil….

….Bis 2005, nach vorangegangener Fehlgeburt und vielen Ängsten und Stressmomenten, meine Erstgeborene zur Welt gekommen war. Sie war von Anfang an das lebendige Beispiel für ein Kind mit einem Rucksack voller „Altlasten“, beginnend mit einer stressbehafteten Schwangerschaft mit Virusinfektion und Vorwehen und einer Nabelschnurumschlingung, die die Geburtshelfer dazu veranlassten, mir das Neugeborene sofort wegzunehmen, um es zu beatmen. Meine Tochter war ein sehr unzufriedenes Baby, das sich nur mit dem Busen beruhigen hatte lassen. Er war für sie weitaus mehr als Nahrungsquelle: Trost, Beruhigung, Stressabbau, Einschlafhilfe,… (bis zum Alter von knapp 2 Jahren, weil sie mir nahezu jegliche andere Art der Flüssigkeitsaufnahme verweigerte) Ohne die Unterstützung einer Kinderphysiotherapeutin wäre sie nicht aktiv zum Krabbeln gekommen. Sprachlich war sie extrem früh dran, mit 1,5 Jahren konnte sie grammatikalisch richtig in ganzen Sätzen sprechen. Diese Fähigkeit nutzte sie auch, um ihren Bedürfnissen nachdrücklich Ausdruck zu verleihen. Zuhause war sie die „Chefin“, bestimmte, wo es langging, was wie gespielt werden musste und was wann am Speiseplan zu stehen hatte. Diese Erwartbarkeit von Ereignissen im gewohnten Umfeld verschafften ihr Sicherheit.

Die ersten Versuche einer Fremdbetreuung mit 2 Jahren scheiterten. Da ich dann bald wieder schwanger geworden war, blieb meine Tochter noch bei mir. In Spielgruppen war sie in der Beobachterposition oder in meiner Nähe, später dann im Kindergarten ebenso. Das passte so überhaupt nicht zusammen: Zuhause schien sie alles zu kontrollieren und rastete mitunter völlig aus, wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen ablief oder sich spontan ändert, andernorts war sie zurückhaltend und sehr schüchtern, geradezu ängstlich und schreckhaft. Meine blitzgescheite Tochter konnte nicht zeigen, was alles in ihr steckte.

Es dauerte bis sie in die erste Klasse Volksschule kam, dass ich über eine Lehrerfortbildung, in der es um „Verhaltensauffälligkeiten im Klassenzimmer“ ging, erstmals von den „Frühkindlichen Reflexen“ gehört hatte. Bei der Vorstellung des Mororeflexes (Angstreflex) und seine Auswirkungen auf den Alltag betroffener Kinder erkannte ich eins zu eins meine Tochter wieder. Nun hatte das „Kind einen Namen“. Nun konnte ich auch den schon früh erahnten unsichtbaren Rucksack meiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler definieren, als „Entwicklungslücken im Zentralnervensystem“, die sich in den Restreaktionen frühkindlicher Reflexe bemerkbar machten.

Ich ging mit meiner Tochter zur Neuromotorischen Entwicklungsförderung nach INPP (Institut für Neurophysiologischen Psychologie) und konnte staunend miterleben, wie sie sich durch die nachträgliche Integration des Mororeflexes regelrecht entfaltete, wie ihr Handlungsspielraum größer und größer wurde und das Potential, das die ganze Zeit über in ihr geschlummert hatte, endlich zum Vorschein kommen konnte.

Ihr Entwicklungs- bzw. Nachreifungsprozess motivierte mich zum Lesen einschlägiger Fachliteratur, was wiederum dazu führte, dass ich meine Schülerinnen und Schüler mit anderen Augen anzusehen begann und ich den Wunsch verspürte, mich selbst am INPP-Institut weiterbilden zu lassen.

Seit 2015 bin ich nun selbständig in meiner „Pädagogischen Praxis für Entwicklungsförderung“ und begleite Kinder, Jugendliche und Erwachsene nach einem ausführlichen Anamnesegespräch und einem standardisierten neuromotorischen Screening mit einem maßgeschneiderten Bewegungsübungsprogramm in ihrem Nachreifungsprozess. Wir machen uns zunutze, dass unser Gehirn ein Leben lang fähig ist, nachzureifen, dort wo Entwicklungslücken im Zentralnervensystem offen geblieben sind. Die Restreflexe zeigen uns diese Lücken an und werden mit exakten Imitationsbewegungen, die einmal täglich für 5min durchgeführt werden, nachträglich integriert oder gehemmt. Nach und nach habe ich mein Praxisangebot erweitert: um das Hörtraining nach Johansen (JIAS), um Mineralstoffberatung nach Dr. Schüßler, um Legasthenie- und Dyskalkulietestungen /-trainings nach dem EÖDL und um theaterpädagogische Elemente (um so meiner großen Leidenschaft, dem Theater, auch noch Ausdruck zu verleihen).

Bei der diesjährigen Tagung des EÖDL durfte ich über die frühkindlichen Reflexe referieren und stieß dabei auf großes Interesse und viel Resonanz. In den letzten 4 Tagen erreichten mit viele Mails und Nachrichten über die Social-Media-Kanäle, die beweisen, dass dieses Thema auch für andere Relevanz hat. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken! Interessierte können sich meinen Vortrag in der Nachschau der Fachtagung zum eigenen Gebrauch downloaden.

Sie möchten wissen, was aus meiner Tochter geworden ist? Sie ist mittlerweile 18 Jahre alt und hat ihre Flügel buchstäblich entfaltet! Sie steht mit beiden Beinen fest im Leben, hat seit 16 Monaten den Führerschein und ist dadurch so selbständig und mobil, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte, ist aktuell in einem Erasmus-Austauschschülerprojekt in Irland und wird 2024 an einer BAFEP maturieren. Ohne sie stünde ich heute nicht dort, wo ich bin. Sie hat mir meinen Weg aufgezeigt.

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